Ehrfurcht vor dem Leben ist unser Jahresthema geworden. Ich habe lange darüber nachgedacht und hatte so viele Themen, die mir dazu eingefallen sind.
Heute also Ehrfurcht vor dem Leben und ein Stück darüber hinaus
Wenn ich Freunden oder der Familie erzähle, dass ich ehrenamtlich Sterbebegleitung mache, werde ich mit großen Augen angesehen und die Frage kommt immer wieder….
Warum machst du das? Und meine Antwort ist immer dieselbe – weil ich es kann.
Ich saß im Wartezimmer eines Arztes als ich am schwarzen Brett, was so herrlich weiß war, einen Flyer des ambulanten Hospizdienstes entdeckte. Sie suchten Menschen für die Sterbebegleitung. Davon hatte ich noch nie gehört. Ich fotografiere seit Jahren ehrenamtlich Sternenkinder und habe schon oft die Eltern ein Stück ihres schweren Weges begleitet. Also habe ich mich mit dem Ambulanten Hospizdienst in Verbindung gesetzt und meine Reise als Sterbebegleiter fing an. Viel habe ich während der Dauer des 1,5 jährigen Kurses gelernt. Vor allen Dingen über mich selbst. Das ganze Team hat uns in diesem Befähigungskurs gutes Rüstzeug mitgegeben. Unsere Sinne für uns und andere geschärft und uns Achtsamkeit gelehrt. Den Blick auf uns selber nicht zu verlieren. Grenzen zu achten und vor allen Dingen – und das habe ich mir ganz dick auf meine persönliche Kladde geschrieben – nicht zu bewerten. Die Situation anzunehmen, wie auch immer sie ist. Der Umgang mit dem Tod ist in unserer Gesellschaft immer noch mit zu vielen Tabus behaftet. Wenn ihr Menschen fragt, wie sie sterben möchten, kommt bei 90% ein – zu Hause im Kreise meiner Lieben – als Antwort. Leider ist dies nicht immer möglich und doch versuchen die Angehörigen ihr Bestes und dazu brauchen sie Unterstützung. Oft werden wir erst gerufen, wenn jeder der Angehörigen fast am Ende ist, wenn sie persönlich schon so gestresst und immer wieder bereit sind, das Letzte zu geben…
Ich erinnere mich noch sehr gut an meine erste Begleitung und möchte euch etwas aus meinem Tagebuch erzählen. Für jeden Menschen, den ich bis zum Tod begleite schreibe ich ein Tagebuch.
Herr K. ist ein intelligenter, mit viel schwarzem Humor ausgerüsteter Mensch. Seine zweite Ehe ist glücklich und das Ehepaar pflegt einen liebevollen Umgang miteinander. Beide haben sich über mein Kommen gefreut. Gibt es Frau J. doch die Möglichkeit etwas zu entspannen oder auch in Ruhe einkaufen zu gehen. Das Pflegebett meidet er. Er schläft auf der Couch. Im Bett stirbt man so schnell, waren seine Worte.
Herr K. erzählte mir viel aus seinem Leben. Er war klar und doch oft sehr müde. Wir haben uns über seine Arbeit und seine Leidenschaft, den Fußball (Borussia Mönchengladbach) und sein Rennradfahren unterhalten. Er ist sehr belesen und diskutierfreudig, was mir sehr entgegen kommt ;)
Durch den manchmal offenen Dekubitus hat er oft starke Schmerzen. Homecare ist drin. Er ist palliativmäßig versorgt. Er sieht nicht mehr gut und bittet mich beim ersten Besuch mein Gesicht anfassen zu dürfen. Aber gerne doch.
Er flirtet gern mit mir und war wohl früher auch ein Draufgänger. Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst wenn ich sterbe, hätte ich früher damit angefangen sagte er mir einmal und lächelte zufrieden. Er ist ein aufrechter Mann mit Prinzipien und einen guten Blick auf sein Leben.
Als ich ihn zur Toilette begleitet habe und ihm sagte, dass ich nun seit rechtes Bein wäre, da es ihm nicht mehr so gehorchen wollte: Ich hatte noch nie ein schöneres rechtes Bein.
Er sucht Nähe, Antworten und auch ein wenig Absolution.
Nächster Besuch:
Heute war Herr K. nicht mehr gut drauf. Er lag im Bett und hatte Schmerzen. Ich sollte mich neben ihn aufs Bett setzen und ihn neben mich aufrichten. Wir sprachen übers Sterben.
Tut Sterben weh?
Das weiß ich nicht – ich bin ja noch hier. Schmerzen können ihnen immer genommen werden…sie müssen es nur sagen. Das Sterben an sich ist ein schleichender Vorgang, der langsam und ruhig von Statten geht.
Ich war nicht immer eine liebe Jung. Meinst du, dass ich in den Himmel komme? Gibt es einen Himmel und wie ist es da? Wenn ich meine erste Frau wieder treffe, möchte ich sie als Erstes fragen, warum. Warum hast du dich umgebracht.
Familie hat ihn enttäuscht. Ob er Frieden mit ihnen schließen soll. Unser Gespräch war sehr intensiv und an vielen Stellen auch sehr witzig. Wir haben über sein Lieblingsbuch, Jauche und Levkojen gesprochen und ich habe ihm daraus vorgelesen.
Und dann lächelt er mich verschmitzt an und sagt: Manchmal tue ich so, als ob ich schon tot bin und dann erschrecke ich alle….
Ich muss gestehen, dass ich seine Art von Humor sehr geschätzt habe.
Liebelein, kannst du mich nicht mitnehmen und irgendwo sterben lassen? Nein Her K. – ich bekomme Sie nicht in mein Auto und schon gar nicht wieder heraus. Und dann haben wir beide gelacht. Einige Besuche folgten noch und er freute sich mich zu sehen und auch ein bisschen aus meinem Leben erfahren zu dürfen. In solch einer Situation gibt es Nähe und Verbundenheit, Vertrauen und auch immer die Liebe, die ich für das Leben und auch für den Tod empfinde.
Bei meinem letzten Besuch haben wir erneut viel übers Sterben gesprochen und das er bereit sei.
Als ich ging nahm er mein Gesicht in seine Hände und dankte mir für meine Besuche, meine Zeit und vor allem für meine Liebe.
Tags darauf starb er.
Dies ist nun viele Jahre her und ich erinnere mich noch oft an ihn, vor allen Dingen wenn die Borussia mal wieder verliert. Dann hätte er den Wimpel zur Wand gedreht. Jeden Winter gehe ich zu seinem Grab und spreche ein paar Minuten mit ihm. Zum Abschied habe ich mir damals das Buch gekauft und lese ab und zu darin. Das ist meine Art des Abschiednehmens.
Und so geht es mir mit vielen Menschen, die ich bis heute begleiten durfte. Jedes Schicksal ist ein besonderes, jeder Mensch in seiner Einzigartigkeit besonders, dass ich zu achten gelernt habe und sorgsam damit umgehe. Familien sind heutzutage sehr belastet, warten zu lange auf Hilfe und überfordern sich über alle Maßen. Oft geht es um das – ich bin es ihr oder ihm schuldig – und die Menschen dahin zu bringen, dass ein entspannter Geist sich besser um den Sterbenden kümmern kann ist schwer. Die Angst nicht da zu sein, wenn er oder sie stirbt ist ein großes Stück Last. Auch wenn ich erkläre, dass Menschen oft sterben, wenn sie allein sind. Weil sie es dann zulassen können und ich sage hier bewusst zulassen und nicht loslassen. Es gibt viele Verbindungen zwischen Menschen, die gerade im Sterbeprozess aktiviert werden und wenn jemand das Gefühl hat nicht gehen zu können, dann wird er es auch nicht tun.
Ihr seht, Sterbebegleitung ist keine Einbahnstraße. Ich erhalte sehr viel von den Menschen, die ich begleite. Ehrlichkeit, Offenheit und Authentizität. Es bereichert mein Leben, meine Art zu denken und auch die Erdung.
Die Ehrfurcht vor allem Lebenden hört bei mir auch im Tod nicht auf. Denn jeder hinterlässt etwas. Erinnerungen, Gefühle, Liebe, Meinungen. Wertvolle Dinge, die die Zeit überdauern und weiter getragen werden.
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